Unsere abendländische oder westliche Musik weist eine Besonderheit auf, welche sie von den meisten anderen Musikkulturen der Welt unterscheidet:
Die Mehrstimmigkeit!
Diese traditionelle Mehrstimmigkeit beruht auf Schichtungen von Terz- und Quintintervallen. Wichtige Beispiele sind Dur- und Mollakkorde. Diese klingen aber nur überzeugend, wenn ihre verschiedenen Töne zu bestimmten idealen Frequenzverhältnissen gestimmt sind.
Die Quinte, das ursprünglichste Intervall.
Die beiden erwähnten und wichtigsten Akkorde der westlichen Musikkultur bestehen je aus einem Quintintervall, welches durch eine große und eine kleine Terz unterteilt wird. In der Grundstellung der Durakkorde steht die große Terz unten, die kleine Terz oben. Beim Mollakkord ist es umgekehrt. Übrigens werden die Terzen erst seit ungefähr 800 Jahren als selbständige Intervalle angesehen, was zur Erstehung der Dur- und Mollakkorde führte. Davor stützte sich die Mehrstimmigkeit nur auf Quint-Intervalle. Darum wollen wir uns auch zuerst mit den Quinten beschäftigen.
Die beiden Töne eines Quinte sollten Idealfall wie 3 : 2 zueinander stimmen. Also beispielsweise E = 660 Hz, A = 440 Hz.
Hören Sie hier ein Quintintervall. Es beginnt rein gestimmt, wird allmählich verstimmt und gleitet zum Schluss zu reiner Stimmung zurück.
Die reine Quinte mit dem idealen Frequenzverhältnis von 3 : 2 ist allerdings um 1/50 Halbton weiter gestimmt, als die gleichstufig temperierte: 702 Cent statt 700 Cent. Weil wir die musikalische Recheneinheit Cent öfters verwenden, lesen Sie im Folgenden, was es damit auf sich hat.
Die musikalische Recheneinheit „Cent“.
Unterschiedliche Stimmung mit Frequenzwerten durchzurechnen und darzustellen ist mühsam. Man muss multiplizieren und dividieren und man sieht unterschiedlichen Ergebnissen nicht auf den ersten Blick an, wie stark sie sich unterscheiden.
Darum hat man das Rechnen mit der Einheit „Cent“ eingeführt. Das ist ganz einfach zu verstehen. Wenn Sie eine Keyboard-Tastatur betrachten, so sehen Sie, dass die Oktave genau 12 Halbtöne umfasst. Wenn deren Töne alle im relativ gleichen Frequenzabstand zueinander gestimmt sind, so wie in der weit verbreiteten gleichstufigen Stimmung üblich, könnten Sie den Frequenzabstand zweier benachbarten Tasten mit „einem Halbton“ gleich „1 HT“ bezeichnen und den einer Quinte mit „7 HT“. Gleichgültig, wo Sie zu zählen beginnen, eine bestimmte Zahl bedeutete immer dasselbe Frequenzverhältnis.
Und nun hat man diesen HT-Wert nochmals in 100 gleiche Teile zerhackt und diese Teile „Cent“ genannt. Ein gleichstufig gestimmter Halbton umfasst also 100 Cent, die Oktave 1200 Cent und die gleichstufig gestimmte Quinte 700 Cent.
Centwerte bezeichnen also nie absolute Frequenzen sondern immer nur Frequenzabstände.
Wenn Sie aus einem in Hz dargestellten Frequenzverhältnis den entsprechenden Centwert selbst errechnen wollen, so erstellen Sie eine Excel-Tabelle wie folgt:
Frequenz 1 in Hz
Frequenz 2 in Hz
(Resultat) =(LOG(Frequenz 1)-LOG(Frequenz 2))/LOG(2)*1200
Beispiel für die reine Quinte
Frequenz 1 = 3
Frequenz 2 = 2
=(LOG(3)-LOG(2))/LOG(2)*1200
Resultat: 701,955… gerundet 702 Cent
Zurück zu den Quinten: Hier sehen Sie die gleichstufige Stimmung als Waagrechte dargestellt und die rein gestimmten Quinten, welche mit Ihren 702 Cent um 2 Cent weiter sind, als die gleichstufigen mit deren 700 Cent, fortlaufend aneinandergefügt. Das ergibt kein geschlossenes System, das Ab beispielsweise differiert vom G# um 24 Cent. Diese Differenz nennt man das „Pythagoreische Komma“. Warum?
Zurück oder vielmehr wieder vorwärts zu den Pythagoreern: Ihr Stimmungsmodell, basierend auf rein gestimmten Quinten, bildete bis ungefähr zum Ende des 12. Jahrhunderts das maßgebliche theoretische und praktische Stimmungssystem in Europa. Die Terzen interessierten die Pythagoreer nicht. Es existierten zwar schon zu ihrer Zeit Ideen für rein gestimmte Terzen, letztere hätten aber wegen ihrer abweichenden Stimmung ihr Quintensystem durcheinandergebracht. Das vertrug sich nicht mit dem pythagoreischen Ideal eines eindeutigen Musiksystems, welches auch eine staatstragende Funktion einnehmen sollte.
Im Folgenden ein Musikbeispiel, auf pythagoreischen Ideen beruhend, aus der Zeit um 1200 und korrekterweise in pythagoreischer Stimmung dargeboten.
Noch ganz dem pythagoreischen Ideal verhaftet wird nur die leere Quinte als vollkommene Konsonanz betrachtet. Originellerweise befindet sich am Anfang des vorletzten Taktes ein B-Dur-Akkord, welcher aber hier - im Gegensatz zu unserer heutigen musikalischen Auffassung - eine Spannung aufbauen soll, welche zur Auflösung durch die leere Schluss-Quinte führt.
Im 13. Jahrhundert experimentierten englische Sänger mit den Terzen und fügten diese in den musikalischen Satz ein. Hier als Beispiel ein Kanon aus jener Zeit: „Sumer is comen“ in quinten- und(!) terzenreiner Stimmung.
Für unsere heutigen Ohren klingt das ganz normal, für die Musiktheoretiker und Tasteninstrumentenbauer jener Zeit bedeute es jedoch eine unliebsame Überraschung, beinahe eine Katastrophe.
Warum?
Sobald man jedoch feste Stimmungsmodelle mit reinen Quinten und Terzen schaffen möchte, scheitert man schon beim Versuch, eine bestimmte diatonische Tonleiter mit ihren gerade mal sieben verschiedenen Tönen nach diesem Ideal einzustimmen. Hier am Beispiel C-Dur veranschaulicht:
Für den zweiten Ton der Tonleiter, das D, benötigte man zwei verschiedenen Positionen: Eine höhere für die Dominante G-H-D und eine tiefere für die Subdominantparallele D-F-A. Die Tonhöhendifferenz beträgt 22 Cent, das schon erwähnte „Syntonische Komma“.
Zum Vergleich können Sie hier einen Dur-Akkord in pythagoreischer, reiner und mitteltöniger Stimmung anhören.
Hören Sie Heinrich Isaac‘s „Innsbruck ich muss Dich lassen“ auf einer mitteltönig gestimmten Orgel wiedergegeben.
Das klingt durchaus überzeugend.
Der Nachteil des mitteltönigen Stimmungsmodells besteht darin, dass es ebenso wie das pythagoreische kein geschlossenes System bildet und nur die Akkorde von Eb-Dur bis E-Dur terzenrein stimmen. Man kann damit also nur in den Tonarten B–Dur bis A-Dur und den entsprechenden Mollparallelen musizieren. Manchmal hat man sich dadurch beholfen, dass man ergänzende Halbtöne wie Ab oder D# (sogenannte Subsemitonien) in die Tastatur einfügte. Siehe die rot gezeichneten Töne im Diagramm unten. Gut geschulte Cembalospieler stimmen ihr Instrument bis heute gerne mitteltönig. Sie stimmen, wenn notwendig wird, eben das G# zum Ab hoch oder das Eb zum D# hinab.
Problematisch sind die „wohltemperierten“ Stimmungssysteme, weil deren Terzen zum Teil sehr unrein gestimmt sind. Besonders die Dur-Akkorde der Tonarten mit mehreren Vorzeichen leiden sehr darunter. Die Moll-Akkorde weniger, warum?
Der Grund ist: Für einen Mollakkord gibt es zwei unterschiedliche Idealstimmungen:
Links aus denselben Terzen wie beim rein gestimmten Dur-Akkord gebildet, rechts mit alternativen Terzen. Die alternative Version liegt ganz nahe bei der gleichstufigen Stimmung. In den wohltemperierten Stimmungssystemen sind alle Mollakkorde entweder nahe zum einen oder zum anderen Ideal gestimmt. Leider kann man die alternativen Terzen nicht für Dur-Akkorde einsetzen. Diese würden immer noch schräg klingen.
Zum Hörvergleich hier ein Moll-Akkord in 3 Stimmungs-Varianten: Herkömmlich rein (10 : 12 : 15), gleichstufig temperiert und alternativ rein (16 : 19 : 24). Alle klingen brauchbar, auch die gleichstufig temperierte wegen ihrer Nähe zur Alternativstimmung.
Um den Ansprüchen einer erweiterten Tonalität zu genügen, wurden die Stimmungsmodelle im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr der gleichstufigen Stimmung angenähert. Hier sind 4 solcher „Temperaturen“ dargestellt von Kirnberger III bis zu Gleichstufig. Mit der letzteren und heute gebräuchlichsten sind alle Mollakkorde brauchbar, alle Dur-Akkorde dagegen sehr schlecht gestimmt. Musikalisch betrachtet ist das eine verkehrte Welt.
Ist „Wohltemperiert“ nun ein notgedrungener Kompromiss oder ein Stimmungsideal? Es wird des Öfteren die Meinung vertreten, dass die Komponisten der Barockzeit die unterschiedliche Stimmung der verschiedenen Tonarten in wohltemperierten Systemen bewusst eingesetzt hätten, um musikalische Aussagen zu unterstreichen. Schauen wir also bei J. S. Bach nach, ob das zutrifft.
In der Matthäuspassion, im Choral „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ heißt es im letzten Vers: „Wenn ich einmal soll scheiden… Es beginnt in a-Moll, der Mensch ist noch auf der Erde verhaftet - und diese Tonart ist „wohltemperiert“ auch gut gestimmt. Zum Schluss heißt es „so reiß mich aus den Ängsten…, (die Seele wird von Jesus aufgefangen).
Dazu wechselt Bach zu E-Dur, was gegenüber der Ausgangstonart a-Moll einen Sinn ergibt, weil die Seele sich erhebt. Aber E-Dur stimmt in allen „wohltemperierten“ Stimmungssystemen hässlich und unsauber. Man mag sich nicht vorstellen, dass Bach hier die schlechte Stimmung als bewussten Effekt einsetzte.
Hier dieses Beispiel zuerst in Kirnberger III-Stimmung. Beachten Sie den E-Dur Schluss:
Dann mit Hermode Tuning, welches auch den Schluss rein intoniert:
Die zweite Fassung unterstreicht den Sinn des Choraltextes besser, die erste arbeitet eher dagegen.
Differenztöne
Wir haben schon die Differenztöne erwähnt. Den meisten Musikhörern fallen sie gar nicht auf, obwohl sie bei mehrstimmiger Musik deutlich mitklingen. Differenztöne mit weniger als 18 Hz nehmen wir nicht als Töne, sondern als Schwebungen wahr. (Bei Elefanten oder Walen ist dies möglicherweise anders).
Töne und Schwebungen sind physikalisch dasselbe, es sind periodische akustische Ereignisse. Kommen sie über das Medium Luft in unsere Ohren so hören wir sie je nachdem als Ton oder als Schwebung. Nichtperiodische akustische Ereignisse stellen sich uns als Geräusch dar.
Hier zur Verdeutlichung ein gleitender Differenzton. Ab-C beginnt terzenrein, dann gleitet das Ab zum C hoch, der Differenzton gleitet dadurch abwärts. Gegen Ende läuft es umgekehrt.
Hier ist je ein Dur-und ein Mollakkord dargestellt, alternativ in reiner und in gleichstufig temperierter Stimmung, die Originaltöne und ihre Frequenzverhältnisse schwarz, ihre Differenztöne und ihre Frequenzverhältnisse farbig gezeichnet. Blaue passen zu den Originaltönen, rote dagegen nicht. Bei den temperiert gestimmten Dreiklängen weist der Mollakkord nur einen störenden Differenzton auf, der Durakkord deren zwei. Bei reiner Stimmung ist der Dur-Akkord störungsfrei, der Mollakkord weist dagegen immer noch einen störenden Differenzton auf.
Weil der Moll-Dreiklang in der gleichstufig temperierten Stimmung reiner klingt, als der Dur-Dreiklang, wird bei einem Klavierkonzert meist der d-Moll-Akkord vom Klavier aus zum Einstimmen für das Orchester vorgegeben.
Hier wird der gleichstufig temperierte Akkord dem Orchester als Stimmungsreferenz vorgegeben.
Als "rein gestimmt" werden normalerweise Akkorde bezeichnet, welche aus rein gestimmten Quinten und Terzen aufgebaut sind. Manche Musiker wünschen sich darüber hinaus ein weiteres Intervall in reiner Stimmung, nämlich die Septime in Dominantseptakkorden. Diese sollte im Verhältnis 7 : 6 zum Grundton gestimmt sein und klingt damit sehr stark. Die Musikbeispiele auf unserer Seite "Beispiele", welche am Textende mit 3/5/7 gekennzeichnet sind, weisen so gestimmte Akkorde auf. Weil diese Septime viel tiefer gestimmt ist, als bei gleichstufiger Temperatur, kann sie jedoch im melodischen Ablauf Probleme mit sich bringen. Näheres dazu im nächsten Abschnitt. Nachstehend ein Klangvergleich verschieden gestimmter Dominantseptakkorde.
Das nebenstehende Beispiel präsentiert einen Dominantseptakkord mit folgender Tonika in 3 Varianten:
- terzen-und quintenrein, die Septime temperiert gestimmt
- alles gleichstufig temperiert
- terzen- und quintenrein samt Naturseptime im ersten Akkord.
Hermode Tuning als Stimmungssteuerung
Es gab mehrere Versuche, die Stimmung von digitalen Tasteninstrumenten und von per Computer gesteuerten Musikanwendungen programmgesteuert zu höherer Reinheit zu stimmen. Durchgesetzt hat sich nur Hermode Tuning.
Dieses Programm arbeitet so, dass, sobald ein neuer Ton gespielt wird oder ein Ton aufhört, die harmonische Situation darauf hin analysiert wird, ob die Töne, welche an sind, sinnvoll zu Terzen- und Quinten-Reinheit eingestimmt werden können. Falls ja, geschieht das in Echtzeit, wobei zum einen darauf geachtet wird, dass das Umstimmen unterhalb der Hörbarkeit stattfindet, zum anderen, dass das Stimmungsgeschehen nicht zu weit von der vorgewählten Stimmtonhöhe abweicht. Typisch für Hermode Tuning ist die „Schwerpunktlagerung“ der eingestimmten Töne.
Schwerpunktlagerung bedeutet: Die Summe der Abweichung aller augenblicklich erklingender Töne von der gleichstufigen Stimmung entspricht meist dem Wert „0“. Siehe nachstehende Zeichnungen.
Eine Programmvariante von Hermode Tuning stimmt in Dominantseptakkorden die Septime zur sogenannten „Naturseptime“ ein. Das klingt sehr stark, wegen der sehr tiefen Stimmung dieser Septime sollte man allerdings bestimmte Akkordfolgen, wie die hier dargestellte, besser nicht legato spielen.
Beim Zusammenspiel mit temperiert gestimmten Instrumenten oder dann, wenn bei klaren Klängen Umstimmungen hörbar werden, kann es vorteilhaft sein, den Reinheitsgrad des mit Hermode Tuning gesteuerten Instrumentes etwas zurückzunehmen.
Sehen Sie im Folgenden zwei Notenbeispiele samt der Darstellung, wie die Tonhöhen durch Hermode Tuning gesteuert werden. (Modus "Classic",100 %") Das erste mit konventionellen Harmoniefolgen in C-Dur. Beachten Sie besonders die unterschiedliche Tonhöhen der Töne "D".
Das zweite mit schweifenden, nicht-tonal-gebundenen Harmoniefolgen.Hier muss Hermode Tuning die Basis-Stimmung (fette schwarze Linie) laufend verändern, damit die notwendigen Umstimmungen unterhalb der Hörbarkeit bleiben.
Bei den Beispielen finden Sie Musikbeispiele in unterschiedlichen Stimmungsvarianten. Der HMT-Modus und dessen Intensität sind je vermerkt.